Jede Diskussion über Naturweine sollte mit einer Definition des Begriffs beginnen. Im Gegensatz zu „bio(logischen)“, „biodynamischen“ oder „Orange-“Weinen gibt es hier keine verbindlichen Regeln oder festgelegten Begrenzungen. Auch im Programm der Fachmesse ProWein finden Naturweine vom 18. bis 20. März 2018 ihren Niederschlag:
PROWEIN: PURE NATUR IM WEIN?
„Naturwein“ ist ein Überbegriff für Weine, deren Fokus auf dem kompromisslosen Ausdruck einer Zeit und eines Ortes liegt, produziert mit möglichst geringem Eingriff und gänzlichem Verzicht auf technologische Manipulation. Poetisch ausgedrückt: Der flüssige Ausdruck von Authentizität, bei dem die Hand der Natur – nicht die des Kellermeisters – ihren Abdruck hinterlässt. Vor ein paar Jahren sagten ein paar Weinjournalisten voraus, dass Naturweine auf dem Massenmarkt groß herauskommen würden. Mit sexy Schlagwörtern wie „naked“ und speziell dem Thema gewidmeten Formaten war die Argumentation der Journalisten verständlich. Diese Weine – siehe etwa den kühlen, konzentrierten Stil der Azienda Agricola Elisabetta Foradori aus den Dolomiten (Halle 13 / C64) oder die Klarheit und Präzision des österreichischen Weingut Claus Preisinger (Halle 17) – strahlen Authentizität aus, in der Regel in einer Bio-Verpackung, und tragen mit Naturwein einen Namen, der – zumindest in unserer westlichen Gesellschaft – Gesundheit suggeriert. Das alles sind Faktoren, die heutzutage bei den Konsumenten gut ankommen.
Der große Durchbruch blieb jedoch aus. Naturweine sind nie einfach, spalten vielmehr häufig. Das Geschmacksprofil ist tendenziell wild, herausfordernd und regt zum Nachdenken an. Was die einen als „dynamisch, lebhaft und…voller Emotionen“ (Isabelle Legeron, MW) beschreiben würden, wird von anderen als farblos, trüb, unrein und flach beschrieben. Auch weitere Faktoren spielten hier eine Rolle, etwa begrenzte Produktionsmengen und die vermehrte Ablehnung gegenüber teuren Produkten der Hipster-Bewegung. Es gibt eine weitere plausible Erklärung: Dass Naturweine nie wirklich groß herausgekommen sind, könnte ein inhärentes Nebenprodukt ihrer Ethik sein. Denn dieser Weinstil bedeutet riskante und teure Produktion mit geringen Erntemengen.
Jeder Versuch der Massenproduktion widerspräche der Existenzberechtigung dieser Weine. Tatsächlich floriert das Genre auf kleinerer Bühne und es wäre eine große Herausforderung, Weine dieser Art für eine Preisstufe von 9,99 € zu produzieren – ganz zu schweigen von günstigeren Preisen. Ein lehrreicher Vergleich lässt sich aus einer vergleichbaren Bewegung in einem anderen Medium ziehen: Grunge Musik. In den 90er Jahren wurden die Dissonanzen des Grunge von den einen als „Lärm“ verschrien und von den anderen als „ungeschliffen“ gefeiert. Grunge verschmähte die Lehren der Popmusik und zog, so ein Rezensent, die „Energie und das Fehlen von Finesse der Technik und Präzision“ vor. Ähnlich der Punkmusik einer vorigen Generation, aber mit einem introspektiven Winkel, passend zur Generation X. Zum Bedauern der Szene war der Hype so billig wie die zugehörigen Flanellhemden. Plattenlabel drängten ihre Bands zu mehr „grunge“. Selbst Lollapalooza – die Genreentsprechung der RAW – fing an, die Acts nach deren Besucherzahlen zu buchen, nicht mehr nach ihrem künstlerischen Beitrag. Grunge konnte den eigenen Ansprüchen nicht mehr entsprechen. Auf die Frage hin: „Kannst du Tag für Tag und Jahr für Jahr natürlich genug bleiben, um deine Authentizität zu beweisen?“ griff Grunge nach den Dollars und war schlussendlich dem Tode geweiht. Naturweine haben dankenswerterweise einen anderen Pfad eingeschlagen.
Die Randexistenz hat den Produzenten eine gewisse handwerkliche Freiheit zum Experimentieren gegeben. Viele ihrer Ideen haben sich tatsächlich als erfolgreich herausgestellt – und werden inzwischen auch außerhalb der Grenzen der Szene eingesetzt. So reden viele konventionellen Stimmen inzwischen von ihrem Respekt gegenüber einem gesunden Ökosystem im Weinberg und stellen den Einfluss, den Zusatzstoffe und Technologie auf den Geschmack haben, offen in Frage. Außerdem dämmert das Verständnis für den Wert eigener Charakteristika gegenüber der Homogenisierung. Da es jedoch keine Zertifizierung gibt, ähnelt das Identifizieren von Naturwein-Produzenten der Suche nach der nicht markierten Tür einer Speakeasy-Bar in New York City zu Zeiten der Prohibition. Hier ein paar Regionen und Produzenten, um das Aufspüren einfacher zu machen. Beginnen wir mit Georgien, wo die Produzenten viele der uralten Traditionen des Landes wiederentdeckt haben – oxidativer Stil und verführerisch wilde Rotweine. Weiter geht es nach Slowenien, wo eine Reihe von Weingütern die Produktion von auf den Schalen vergorener Naturweine mit ihren komplexen, pikanten Aromen und der komplexen, sinnlichen Textur mit offenen Armen empfangen haben.
Auch Westeuropa macht bei diesem Trend mit. Dank Jules Chauvet und anderen modernen Propheten wie Marcel Lapierre und Guy Breton, wird Beaujolais als Wiege der Naturweine akzeptiert. Wie dem auch sei, viele Profis aus der Weinbranche halten die Weine von Eric Texier von der Rhône sowie Catherine und Pierre Breton aus dem Bourgueil für unverfällschte Schönheiten mit möglichst wenig Schwefel und einer freudigen, lebhaften und aromatischen Komplexität. Dann ist da noch die neue Generation aus dem Loiretal, wo Virginie Joly die Zügel im Anwesen Coulee de Serrant (Hall 13 / C64) von ihrem Vater, dem Naturweinpropheten Nicolas, übernommen hat. Am Stand des deutschen Importeurs Vinaturel (Hall 13 / C64) oder von Ecovin (Halle 13 / C08–84) können viele deutsche Winzer angetroffen werden. Doch das sind nur ausgewählte Empfehlungen. Am besten die Weinproduzenten befragen, welche Weine als nächstes zu verkosten sind.
Vielleicht fällt auf, dass die Bewegung eine beeindruckende stilistische Vielfalt erreicht hat – je nach Blickwinkel „Melting Pot“ oder Petrischale. In den vergangenen Jahren hat die technische Seite der Weinproduktion definitiv einen Sprung vorwärts gemacht. Letztendlich bedeutet die Existenz auf der Kriechspur der Branche ständige Selbstkontrolle – ein Kompromiss, der den Trend überstanden hat, ohne den eigenen moralischen Geboten widersprechen zu müssen. Der Einfluss ist real. Für Skeptiker ist es an der Zeit, diesen Bereich ernster zu nehmen.
Foto: Klaus Feldkeller/Constanze Tillmann